Republikanismus

Als drittes “Prinzip” der “Republikanismus”. Bei diesem Prinzip handelt es sich formal um nichts anderes als um die staatsrechtliche Ermöglichung des “Populismus”, also um die verbindliche Feststellung, daß die Saatsgewalt nun nicht mehr bei einem Sultan-Monarchen lag, sondern eine “res publica”, eine “öffentliche Sache”, war. Hatte schon, im Einklang mit den politischen Realitäten, der Paragraph 1 der Verfassung von 1921 gelautet: “Die Souveränität ist absolut ausschließliches Eigentum des Volkes. Alle Regierungsgewalt wird einzig und uneingeschränkt vom Volke selbst ausgeübt”, so enthielt, nach der tatsächlichen Abschaffung des Sultanats, die Verfassung von 1923 die förmliche Ausrufung der Republik. Diese Veränderung mag dem heutigen Betrachter als nichts anderes denn als beglückendes Geschenk an das Volk erscheinen.

Für die Menschen damals bedeutete sie aber zugleich – so sehr der gemeinsame Befreiungskampf auch ihr politisches Bewußtsein geweckt haben möchte – eine nicht leichte Umstellung: Mindestens in den mehr als 620 Jahren osmanischer Herrschaft hatte die Macht immer in den Händen eines einzigen gelegen. Ihre Zuweisung an die eigene Freiheit eines jeden mußte in vielen zunächst Ratlosigkeit, ja das Gefühl von etwas Gefährlichem erzeugen. Das Vorbild des verständigen Staatsbürgers bedurfte unter diesen Umständen einer eher längeren Entwicklungszeit. Entsprechend konnten aber auch nicht die Strukturen einer vollen “Volksherrschaft” in Gänze sofort eingerichtet werden, obwohl sie, wie auch Kritiker bezeugen, Mustafa Kemal ein Grundanliegen war. Dies wurde zum Beispiel deutlich bei den beiden Versuchen 1924 und 1930, eine Oppositionspartei einzuführen: Sie war jeweils in kurzer Zeit zum Sammelbecken von radikalen Gegnern schon verfassungsmäßig verankerter Errungenschaften geworden. Die Versuche wurden rückgängig gemacht. Der Staatspräsident und die überzeugten Kemalisten nahmen im Sinne einer Verantwortungsethik lieber das Odium einer noch unvollkommen Demokratie auf sich als die Erreichung von Zielen aufs Spiel zu setzt, die ihrerseits, wie noch zu zeigen sein wird, zum Inbegriff von Demokratie gehören. Im übrigen waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Flügeln des “oppositionslosen” Parlaments ausgeprägter als in mancher damaligen und heutigen Parteikoalition. (Ausländische Beobachter haben die Lebhaftigkeit des Abgeordnetendisputs oft unterstrichen).

Die “Große Nationalversammlung” war keineswegs, wie die “Volksvertretung” in Diktaturen, ein Popanz, sondern fällte jeweils die letzte Entscheidung – mit  einem Interventionsspielraum für den Staatspräsidenten, wie ihn vergleichbar auch die amerikanische und die jetzige russische Verfassung kennt. Sich darüber hinaus zum uneingeschränkten Diktator zu erheben, wäre Mustafa Kemal, der weit überragenden politischen Persönlichkeit des Landes, bei der Sympathie des Volkes nicht schwergefallen (Sultanat und Kalifat wurden ihm ausdrücklich nahegelegt). Er hielt sich aber demonstrativ im Rahmen der Gesetze, gab zeitlich begrenzt erteilte Vollmachten wieder zurück und verzichtete in den dreißiger Jahren auch auf manche Einflußmöglichkeiten in der Innenpolitik. Bereits in der schon erwähnten Großen Rede im Oktober 1927 hatte er sich für seinen Teil an der Verantwortung für harte Entscheidungen auf dem Weg der Türkei seit 1919 gerechtfertigt – wozu er von niemanden genötigt worden war.



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